Samstag, 28. März 2020

Diagnose


Liebe Frau Dr X!

Hier schreibt Ihnen der (mittlerweile entlassene) Patient mit den schwarz lackierten Fingernägeln. Ihr Befund hat mich erreicht und ich möchte mich noch einmal bei Ihnen dafür bedanken, wie nachvollziehbar Sie mir erklärt haben, was es bedeutet, eine Autismus-Spektrum-Störung (ASS) zu haben, und warum diese bei mir nicht festgestellt werden kann. Sie haben mir anschaulich dargelegt, dass bei Autisten bestimmte Verknüpfungen im Gehirn einfach nicht vorhanden sind, und dass es deshalb zu Schwierigkeiten in der Kommunikation kommen kann, im emotionalen Erleben oder im Erstellen von Zusammenhängen. Das alles funktioniert bei mir offensichtlich und so weiß ich nun, dass ich kein Autist bin. Sie bescheinigen mir, dass ich ein völlig normaler, etwas exzentrisch gekleideter Mensch bin. Vielen Dank für diese Antwort, das gibt mir etwas Ruhe!

Nur... manchmal brauche ich wirklich lange, um zu schalten.

Das nervt mich immer wieder, denn oft fällt mir erst Stunden oder Tage nach einer bestimmten Situation etwas ein, das ich eigentlich sagen wollte. So war es auch bei unserem letzten Gespräch - erst Stunden später, als ich schon längst wieder in Kiel war, ist mir eingefallen, dass ich gar nicht zu Ihnen gekommen bin mit der Frage, ob ich Autist bin. Ich hatte mich im Vorfeld einigermaßen mit dem Thema beschäftigt, und bin bereits selbst zu diesem Schluss gekommen. Meine Frage ging dahin, ob das Asperger-Syndrom - eine milde Variante der ASS - bei mir mit Sicherheit ausgeschlossen werden könne - so wie es auch auf der Überweisung zu Ihnen steht. Und da sind nun doch einige Fragen offen geblieben.

Da geht mir zunächst etwas durch den Kopf, was Sie mir bei unserem letzten Gespräch gesagt hatten: Dass es nämlich einige Auffälligkeiten in den Selbsteinschätzungsbögen gebe, und dass Sie einige Widersprüche in Ihrem Interview mit mir festgestellt hätten. Leider sind wir darauf nicht näher eingegangen, aber auch das haben Sie mir erklärt: Patienten fehle bei einer Selbsteinschätzung in der Regel die Referenz, und deswegen schätzten sie Werte oft zu hoch oder zu niedrig ein. Und die Widersprüche im Interview?

Sie haben wir eine Differentialdiagnostik aufgezeigt, die das alles wohl erklären könnte, nämlich ein stark ausgeprägtes ADHS in der Kindheit, das nicht bis in's Erwachsenenalter persistiere, das aber die Auffälligkeiten in den Zeugnissen erklären könnte, ebenso auch meine Verhaltensauffälligkeiten in der Gegenwart, wie zum Beispiel "leicht bestehende reduzierte Inhibition" (was als mangelnde Empathie wahrgenommen werde). Das empfand ich in unserem Gespräch als nachvollziehbar.

In Ihrem Bericht sind nun allerdings auch die Testergebnisse genauer aufgelistet, und um sie zu verstehen, musste ich zunächst einen neuen medizinischen Begriff lernen, nämlich den Cut-Off (CO), also den Wert auf einer Skala, ab dem eine medizinische Auffälligkeit besteht, bzw. den Wert, den ein Großteil einer Testgruppe mit der zu untersuchenden Diagnose erreicht. Ein Beispiel wäre vielleicht der Intelligenzquotient - der CO, ab dem man von Hochbegabung sprechen würde, liegt bei 130, der CO, ab dem man von einer geistigen Behinderung spricht, liegt bei <70.

So erreiche ich auf der Attention-Deficit-Scale for Adults (ADSA) 168 Punkte, der CO liegt bei 181, und auf der Brown Attention Deficit Scale (BADS) 65 Punkte bei einem CO von 50-60. Das ist ein interessanter Befund, würde ich meinen. Das deutet in die Richtung der von Ihnen gestellten Differentialdiagnose.

Im Bereich der Screeningbögen für Persönlichkeitsstörungen zeigen sich Hinweise auf eine schizoide Persönlichkeitsstörung; dort liege ich genau auf dem CO von vier von neun möglichen Symptomen. Diese Störung schließen Sie allerdings bei mir aus, als Resultat des klinischen Interviews. Ihre Kollegin hat mir aber empfohlen, mich einfach einmal über die schizoide Persönlichkeitsstörung zu informieren - was ich auch gemacht habe, und dabei habe ich erkannt, dass es wirklich viele Übereinstimmungen mit meinem Verhalten gibt. Eine interessante Feststellung; ich wüsste gern, wieso Sie das bei mir mit Sicherheit ausschließen können.

Sowohl diese Auffälligkeit als auch die Punkte auf den ADHS-Skalen ließen sich auch mit einer Autismus-Spektrum-Störung erklären - wie also lauten die Werte auf den einschlägigen Testbögen zur Autismus-Diagnostik?

Auf der Cambridge Behaviour Scale (EQ) liegt der CO bei <30 - unauffällige männliche Probanden erreichten im Schnitt 41,8 Punkte, das bedeutet, je geringer der Wert ist, umso eher ist hier eine Auffälligkeit zu sehen. Meine Punktzahl beträgt 12. Im Autismus Quotient Test (AQ) liegt der CO bei 32, unauffällige Probanden erreichten im Schnitt 16,4; meine Punktzahl beträgt hier 44. Leider gehen Sie auf diese Auffälligkeiten nicht tiefer ein, sondern schreiben dazu: "Beide Ergebnisse lassen jedoch keine Rückschlüsse auf die Spezifität der Tests zu. Pat. mit Angsterkrankungen oder Persönlichkeitsstörungen zeigten ebenfalls einen hohen score." Das würde dann doch eigentlich zur schizoiden Persönlichkeitsstörung passen können - oder? Auf der Marburger Beurteilungsskala zum Asperger-Syndrom (MBAS) lande ich in den Kategorien "stereotypes / inadäquates Verhalten" und "auffälliger Sprachstil / Sonderinteressen" jeweils auf oder über dem CO; insgesamt errreiche ich auf der MBAS 63 Punkte bei einem CO von 103.

Dann wäre da noch der reading-mind-in-the-eyes-test, bei dem ich 36 Fotos von Mienen bekommen habe und einschätzen sollte, welche Stimmung diese Miene gerade darstellt. Unauffällige Kontrollgruppen erreichten im Durchschnitt 26,2 bis 30,9 Punkte, Patienten mit einer ASS dagegen erreichten 21,9 Punkte. Meine Punktzahl in diesem Test beträgt 22. Sie schreiben dazu allerdings, dass es sich hierbei noch um ein Forschungsintrument handele (und damit nicht genügend belastbar sei).

Zusammenfassend kann man feststellen, dass es bei mir Auffälligkeiten auf den ADHS- und Autissmusskalen sowie der schizoiden Persönlichkeitsstörung und bei den Tests zu Mimik und Prosodie gibt. All' diese Auffälligkeiten reduzieren Sie allerdings als Resultat des klinischen Interviews auf ein ADHS in der Kindheit, das nicht bis in's Erwachsenenalter andauere. Stark vereinfacht: Im Gespräch erschien ich Ihnen zu normal, als dass irgendeine Störung erkannt werden könne. Und das glaube ich Ihnen sofort, allerdings gab es Dinge in diesem Gespräch, die ich nicht verstanden habe, und auch Sie selbst haben von Widersprüchen und Auffälligkeiten gesprochen. Leider findet sich davon nichts in Ihrem Bericht wieder, also versuche ich mich einmal zu erinnern, was mir aufgefallen war.

Da wäre zum Beispiel Ihre Eingangsfrage "Wie geht es ihnen?" - wenn Sie sich recht entsinnen, habe ich bei der Antwort gestottert, bzw. gezögert, denn ich wusste nicht, was Sie meinen: Meinen Gesundheitszustand, physisch oder psychisch, die allgemeine Situation oder das Befinden in diesem Moment. Ich wusste nicht, ob Sie sich vielleicht auf das Coronavirus beziehen. Also habe ich Ihnen geantwortet, dass es mir im Moment gesundheitlich gut gehe. In Rückschau auf das Gespräch meinten Sie dann "Sie haben gesagt, dass es ihnen gut geht, und das konnte man ihnen auch ansehen, sie haben durchgehend gelächelt." - und diese Ableitung finde ich leichtsinnig (vor allem, weil Sie mich in Ihrer Patientenbeschreibung als "psychomotorisch unruhig, angespannt" bezeichnet haben).

Ich versuche immer zu lächeln, weil das einer der buddhistischen Grundsätze ist, nach denen ich zu leben versuche. Dass es mir in dem Moment insgesamt scheiße ging, weil ich kein Gehalt hatte, mein Konto gesperrt war, ich meine Miete nicht zahlen konnte, täglich Mahnungen eingetrudelt sind, ich nicht wusste, ob ich meinen Job würde behalten können und mir nicht einmal etwas zu essen kaufen konnte und auch nicht wusste, ob ich mir überhaupt die Zugfahrt zu diesem Untersuchungstermin leisten konnte, davon wussten Sie nichts - denn danach haben Sie ja auch nicht gefragt. Kann man meinem Gesicht ansehen, wie es mir geht? Wenn ich meiner ersten Schulleiterin glauben darf, dann nicht - denn als ich ihr damals erzählt habe, wie mies es mir im Referendariat ging, hat sie mich vor mehreren Zeugen als "reichlich unglaubwürdig" bezeichnet.

Sie haben mich nach Sonderinteressen gefragt - die ich durchaus habe, zum Beispiel SMBHs oder Achterbahnsysteme. Das habe ich Ihnen auch erzählt, daraufhin meinten Sie: "Aber nicht so, dass sie in Gesprächen immer wieder auf ein Thema zurückkommen können, oder?" - woraufhin ich Ihnen erklärte, dass man mir das im Studium mehrfach zurückgemeldet hatte und dass ich seitdem nicht mehr viel von mir aus erzähle, aus Angst, dass ich eben immer wieder auf meine Spezialthemen zurückfalle. Auch hier haben Sie keine Auffälligkeit festgestellt.

Sie haben eine Anekdote von sich erzählt, von einem Familienessen zu Weihnachten "...und ich musste mich um all' das kümmern, und ich hatte den Tag so genau geplant, und dann kam es schließlich zur Katastrophe." Schweigen. Ihr Blick auf meinem Gesicht. Schweigen. Natürlich frage ich dann nach, was das für eine Katastrophe war, aber glauben Sie deswegen, dass ich mich ernsthaft dafür interessiere, was bei Ihrem Weihnachtsessen passiert ist? Ich habe nachgefragt, weil sie mich so stechend angeschaut haben und weil ich nicht wusste, was ich mit diesem Schweigen anfangen soll. Ich habe mich unter Druck gesetzt gefühlt; Sie haben das als persönliches Interesse und Zeichen meiner Empathiefähigkeit ausgelegt. Auch hier also keine Auffälligkeiten.

Sie haben mich mehrfach gefragt, ob ich mich lange und intensiv mit einer Sache beschäftigen kann, ohne abgelenkt zu werden, und ich habe Ihnen mehrfach geantwortet, dass das der Fall ist - dass ich sogar öfters die ganze Welt um mich herum dabei vergesse. Sie haben jedesmal nachgefragt, ob das wirklich so sei und ob ich mich da nicht vielleicht irre, bzw. ob mir das nur so vorkäme. Im Nachhinein frage ich mich, ob das nicht mit Ihrer Einschätzung des ADHS zusammenpasst und Sie das deshalb nicht übernommen haben?

Ich habe Ihnen von den vielfältigen Problemen erzählt, die teilweise sehr speziell sind - so habe ich bisher erst drei weitere Menschen kennengelernt, die das Essen und Trinken bis hin zum Kreislaufkollaps vergessen. Das erwähnen Sie in dem Bericht nirgends, auch nicht den Verdacht auf Hochbegabung. Sie gehen auf keine der Auffälligkeiten in den Testbögen ein ("Patienten schätzen sich da in der Regel als zu gut ein") und schließen die schizoide Persönlichkeitsstörung ohne Angaben von Gründen aus. "Weiter zeigte sich insbesondere kein Hinweis auf eine (...) schizoide Persönlichkeitsstörung, die sich nicht mit den klinischem (sic) Eindruck deckt." - Das verstehe ich nicht. Zeigt sie sich nun oder nicht?

Gerade wenn Sie dem klinischen Interview so viel mehr Gewicht einräumen als den Testbögen, würde ich gedacht haben, dass wir dann noch einmal näher auf die Widersprüche eingehen, die Sie in meinen Aussagen im Vergleich zu den Testantworten entdeckt haben. Es fühlt sich ein wenig so an, als würde das alles unter den Tisch gekehrt. Ich darf natürlich nicht von mir auf Andere schließen, aber es wirkt, als ob Sie nur die Aspekte und Antworten herausgepickt haben, die zu der ADHS-Diagnose (soweit möglich) gepasst haben, und dass alle anderen Auffälligkeiten "discounted" wurden - aber das ist sicherlich nur mein Eindruck.

Ich würde mich daher freuen, wenn Sie mir in einem weiteren Gespräch Ihren Befund erklären könnten, denn letztlich sind am Ende mehr Fragen bei mir offen als vorher, und ich bedaure, dass Sie den Begriff Asperger-Syndrom weder in unseren Gesprächen, noch im Gutachten auch nur ein einziges Mal erwähnen, so dass ich mich in diesem Feld selbständig informieren werde.

Ich danke Ihnen nochmals für die vielen allgemeinen Informationen, die ich aus meinen beiden Besuchen bei Ihnen mitnehmen konnte. Dass bei mir der Eindruck entstanden ist, dass Sie mich nicht ernst genommen haben, ist mein persönliches Problem, an dem ich derzeit arbeiten könnte. Sie waren sehr freundlich zu mir, auch wenn Sie bei mir darüber hinaus den Eindruck erweckt haben, ich würde mir das alles nur einbilden. Der Satz "Autismus ist momentan auch so eine Modediagnose" hätte nicht sein müssen, da er diesen Eindruck noch zusätzlich befeuert. Aber auch das werde ich bei Gelegenheit mit mir selbst ausdiskutieren.

Vielen Dank für Ihr Hilfsangebot!

Mit freundlichen Grüßen,
Dr Hilarius

(dieser Brief ist fiktiv)

post scriptum: Also, ich fühle mich zwar etwas schlauer in der Hinsicht, wie eine Autismusdiagnostik funktioniert, habe aber auf meine Frage, ob das Asperger-Syndrom bei mir mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann, keine Antwort bekommen, im Gegenteil, die Auffälligkeiten in den Befunden lassen mich auch weiterhin über das Thema nachdenken. Ich sehe diesen Entlassbrief also nicht als Schlussstrich einer Untersuchung an, sondern eher als gute Ausgangsgrundlage für weitere Gespräche, und bin ziemlich dankbar dafür, dass ich jetzt endlich etwas in der Hand habe, auch wenn ich das Gefühl nicht abschütteln kann, nicht ernstgenommen worden zu sein. Aber vielleicht kommt mir das wirklich nur so vor, und das meine ich auch so.

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